In Stuttgart zeichnet sich ein neuer Trend ab: Wo wenig Miete bezahlt wird, sollen alte Häuser teuren Neubauten weichen. Häufig helfen Vermieter mit Geld nach, um Mieter loszuwerden. Doch manchmal treten plötzlich Schäden auf – der Mieterbund glaubt an mutwillige Zerstörung.
Uzbee Mohideen hat seine Hände tief in die Taschen seiner beigefarbenen Jacke gesteckt. Er steht vor dem Haus, in dem er seit 16 Jahren wohnt. Doch jetzt wird das Heim, das er sich in seiner kleinen Wohnung im Stuttgarter Stadtbezirk Weilimdorf aufgebaut hat, plötzlich bedroht. Mohideen, seine Frau und seine beiden Kinder sollen ausziehen. Nicht freiwillig. Die Familie soll dazu regelrecht gezwungen werden.
Der Eigentümer des Mehrfamilienhauses hat Räumungsklage gegen Uzbee Mohideen und die anderen Mieter im Haus eingereicht. Die Begründung: Man sei „an einer angemessenen wirtschaftlichen Verwertung gehindert“. So steht es in dem Gerichtspapier, das unserer Redaktion vorliegt. Kurz gesagt bedeutet das: Dem Eigentümer reicht die Miete nicht, die er derzeit aus den vier vermieteten Wohnungen bekommt.
Die Bewohner aber wollen nicht gehen, ihre Wohnungen nicht einfach so hergeben. In der Folge sind urplötzlich Beschädigungen am Haus aufgetreten: Der Kellerzugang etwa wurde mit Bauschutt und Erde zugeschüttet, die Haustür verschwand, die Regenrinne wurde zerstört – Wasser dringt ungehindert ins Haus. „Man will die Menschen zum Auszug zwingen, indem man ihnen das Leben unmöglich macht“, glaubt der Landesvorsitzende des Mieterbundes, Rolf Gaßmann. „Der Vermieter will die Bewohner zermürben.“ Laut Mieterbund handelt es sich nicht um einen Einzelfall.
Das Haus in Weilimdorf hat den Eigentümer gewechselt. „Damit hat unser Ärger angefangen“, erzählt Mohideen. Aus der Räumungsklage geht hervor, dass die Familie Mohideen, dem Willen der neuen Eigentümer nach, zum 30. Juni 2018 hätte auszuziehen sollen. Die Bewohner aber haben sich gegen die Kündigung gewehrt – der Fall wird im Dezember vor Gericht entschieden. Auch die anderen drei Mietparteien im Haus werden ihren Vermieter wohl das nächste Mal vor Gericht wiedersehen.
„Ich kann verstehen, dass man hier neu bauen will“, sagt Mohideen nüchtern. Was dem Familienvater aber zu schaffen macht, sind die Schäden am Haus, die den Aussagen der Mieter zufolge erst aufgetreten sind, als die Bewohner sich weigerten, ihre Wohnungen zu verlassen. Ein Beispiel: Ein Foto aus dem Juli dieses Jahres zeigt eine intakte, breite Hofeinfahrt. Inzwischen aber ist der Beton aufgebrochen, rostige Rohre ragen aus dem Erdreich hervor, der Weg zwischen Haus und Bauzaun ist schmal. Für einen Kinderwagen fast zu schmal. „Am Haus wurden Dinge einfach kaputt gemacht“, sagt Mohideen verärgert.
Eingang zum Keller mit Bauschutt blockiert
Heute stellt sich das Bild vor Ort so dar: Am Hauseingang befindet sich eine Tür ohne Schloss. Mit der alten, abschließbaren Tür wurde das Kellerfenster von außen blockiert. Kein Licht dringt mehr ins Untergeschoss. Der äußere Zugang zum Keller wurde mit Bauschutt und Erde zugeschüttet. Im Treppenhaus gibt es kein Licht mehr, die Klingelanlage wurde abgebaut. Die Regenrinne oberhalb des früheren Kellerzugangs wurde durchtrennt. Wasser kann nun ungehindert in den Keller laufen. Der Mieterverein will den Vermieter mit juristischen Mitteln dazu bringen, die dringlichsten Schäden zu beseitigen – auch hier wird die Entscheidung wohl erst vor Gericht fallen.
Trotz mehrfacher und ausführlicher Anfragen unserer Zeitung wollte sich der Eigentümer der Immobilie, die Firma Hermann Wohnbau mit Sitz in Kornwestheim, nicht zu den Vorgängen äußern. Fragen, wer die Schäden am Haus verursacht haben könnte oder ob die Probleme zeitnah behoben werden, bleiben unbeantwortet.
Dem Internetauftritt des Vermieters zufolge ist die Unternehmensgruppe neben der Immobilienentwicklung noch in weiteren Geschäftsfeldern aktiv – etwa im Management von Profiboxern. Und: auf der Internetseite des Vermieters wird unter der Adresse in Weilimdorf bereits ein Neubauquartier mit Namen „neue Grüne Mitte“ beworben. Das Objekt sei „in Planung“, heißt es da. Zudem hat die Firma nach Informationen unserer Zeitung den ersten Bauantrag für einen Neubau samt Tiefgarage anstelle des alten Mehrfamilienhauses beim Baurechtsamt der Landeshauptstadt bereits im Februar 2018 gestellt – lange bevor Familie Mohideen und die anderen Bewohner des Hauses hätten ausziehen sollen.
Nach Aussage von Mieterbund-Chef Gaßmann ist der Fall ein extremes Beispiel für eine aktuelle Entwicklung am Wohnungsmarkt. „Ältere Häuser in guter Lage werden abgerissen, um dort ertragreiche, neue Wohnanlagen erstellen zu können“, sagt er. Das Problem von Mietern, die ihre angestammte Umgebung nicht verlassen wollen oder können, wird laut Rolf Gaßmann in vielen Fällen mit Geld gelöst. „Beim Bau und dem anschließenden Verkauf oder der Vermietung neuer Wohnungen springt in der Regel genug raus, damit der Bauträger den bisherigen Mietern eine großzügige Abfindung zahlen kann“, sagt er. Aber: „Rabiates Vorgehen wie in dem Fall in Weilimdorf beobachten wir leider immer öfter.“
Mieterbund: Zu geringe Mieten taugen nur selten als Kündigungsgrund
Mit Blick auf die Räumungsklagen gegen die Mieter aus Weilimdorf gibt sich Gaßmann zuversichtlich. „Es gibt ganz wenige Fälle, bei denen mangelnde Wirtschaftlichkeit eine Kündigung rechtfertigt“, sagt er. Das sei besonders dann der Fall, wenn der Kauf der Immobilie noch nicht lange zurückliege, so Gaßmann. „Niemand wird gezwungen, ein vermietetes Wohnhaus zu kaufen. Zudem kann man sich vorab über die Höhe der Mieten und damit über die Wirtschaftlichkeit informieren“, sagt er. Ähnlich argumentiert der Anwalt der Familie Mohideen. „Der Kündigungsgrund entsteht überhaupt erst mit der Veräußerung und erst beim Erwerber“, heißt es in der offiziellen Antwort auf die Räumungsklage.
Uzbee Mohideen hat sich mit seiner Familie trotzdem auf Wohnungssuche gemacht. „Ich habe mehr als 300 Bewerbungen geschrieben“, berichtet der Familienvater. Auf die meisten Anschreiben habe er jedoch keine Antwort erhalten, erzählt er. Und: „Selbst mit einem guten Gehalt ist es kaum möglich, eine Wohnung zu finden.“ Die einzigen Angebote, bei denen Mohideen in die engere Auswahl gekommen ist, hätten das Budget der vierköpfigen Familie komplett gesprengt. Und auch die anderen Mieter des Hauses sind nach eigener Aussage verzweifelt auf der Suche nach einer neuen Bleibe.
In der Räumungsklage des neuen Eigentümers heißt es dazu: „Auch ist die lapidare Begründung, der Beklagte (hier ist die Familie Mohideen gemeint) habe trotz intensiver Wohnungssuche keine Ersatzwohnung finden können, für einen Sozialwiderspruch nicht ausreichend.“ Sollte der Vermieter mit dieser Rechtsauffassung bei der Gerichtsverhandlung im Dezember erfolgreich sein, würden die Mohideens und die anderen Bewohner des Hauses auf der Straße stehen. In einem solchen Fall könnte die Familie bei der Stadt um eine Notunterkunft bitten. „Das will ich vermeiden“, sagt Mohideen. „Ich arbeite seit 25 Jahren bei einem großen Autohersteller in der Region. Ich will nicht, dass die Stadt mir helfen muss.“
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