Sie werden von ihrem Partner geschlagen und gedemütigt. Opfer häuslicher Gewalt wollen der Situation entfliehen, entscheiden sich aber zunehmend häufiger auszuharren. Die Sozialberatungen im Raum Stuttgart schlagen Alarm.
Stuttgart – Die Lage scheint ausweglos: Eine Frau im Stuttgarter Speckgürtel. Sie ist in zweiter Ehe verheiratet, hat zwei Kinder im Grundschulalter. Als sie bei ihrem neuen Partner einzieht, engt der Mann sie mehr und mehr ein. Es kommt zu Streitereien. Die beiden Kinder erleben täglich, wie ihre Mutter gedemütigt wird. Der Stiefvater schubst die Frau, droht, mit Gegenständen auf sie einzuschlagen. Die Polizei rückt an – mehrfach. Die Frau will dem entfliehen, doch sie schafft es nicht. Ihr Job, die Schule der Kinder – zu weit wegziehen will sie nicht. Das Frauenhaus ist noch keine Option und eine Wohnung in der Nähe – unbezahlbar.
Sozialberatungen im Raum Stuttgart schlagen Alarm. Immer häufiger bleiben Opfer häuslicher Gewalt bei ihren Partnern, weil sie keine Wohnung finden. Zwar gibt es Hilfsangebote für Frauen in Not und wohnungslose Familien – doch der Schritt, in ein Sozialhotel oder ein Frauenhaus zu gehen, ist für viele gravierend, weiß Stefani Brenner, Beraterin bei Pro Familia Stuttgart. „Das ganze gewachsene Umfeld für die Familie fällt weg.“ Die Kinder verlieren Freunde in der Kita oder in der Schule, der Weg zur Arbeit braucht zu viel Zeit, um den Alltag zu meistern. Brenner stellt fest, dass selbst Frauen, die den Absprung ins Frauenhaus geschafft haben, oftmals zu ihrem Partner zurückkehren, weil sie erkennen, dass sie so schnell keine neue Wohnung bekommen.
Lage hat sich zugespitzt
Rosemarie Daumüller, Geschäftsführerin beim Landesfamilienrat, kennt das Problem: „Die Lage am Wohnungsmarkt hat sich insbesondere für Familien zugespitzt“, sagt sie. „In den vergangenen 15 bis 20 Jahren haben Land und Kommunen Häuser und Grundstücke verkauft und damit Steuerungsmöglichkeiten eingebüßt.“
In den Beratungen ist die Lage am Wohnungsmarkt allgegenwärtig – ob in der Schwangerenberatung oder auch bei Trennungen, in denen Gewalt keine Rolle spielt. „Die Leute kommen teilweise zu uns, weil sie eine Wohnung suchen. Dabei ist das überhaupt nicht unsere Aufgabe“, sagt Ulrich Preuß von Pro Familia in Waiblingen. „Das gab es früher nicht.“
In Stuttgart wird das Ausmaß an der Zahl der Sozialwohnungen sichtbar. Die sogenannte Vormerkdatei, eine Warteliste, auf der auch dringliche Fälle wie Opfer häuslicher Gewalt landen, wuchs seit 2011 stetig an. Ende 2018 waren 4688 Haushalte vermerkt. Zumindest einen Lichtblick gibt es – in diesem Jahr wurde die Liste nach Auskunft der Stadt bisher nicht länger. Menschen in Notsituationen erhalten eine Sozialwohnung mit einer höheren Priorität – doch angesichts der hohen Zahl der Wartenden in einer ähnlichen Situation hilft ihnen das nicht unbedingt weiter. „Vor ein paar Jahren war es noch besser möglich zu priorisieren, damit Familien in Not schneller eine Sozialwohnung bekommen“, sagt Stefani Brenner von Pro Familia.
Plätze für Notfälle blockiert
Und das Problem setzt sich fort. „Die Systeme der Wohnungsnotfallhilfe verstopfen“, warnt Sabine Reichle von der Caritas in Stuttgart. Selbst wenn sich eine Frau für das Frauenhaus entscheidet, ist der Platz nicht garantiert. Das Sozialministerium rechnet, dass ohnehin landesweit 633 Betten fehlen. In Baden-Württemberg gibt es derzeit 42 Frauenhäuser mit 752 Plätzen. Und im autonomen Frauenhaus in Stuttgart stellt man gleichzeitig fest, dass die Zahl derer, die länger als ein Jahr bleiben, wächst. Für Frauen ohne eigenes Einkommen oder Alleinerziehende sei die Suche auf dem privaten Wohnungsmarkt oft wenig aussichtsreich, sagt Andrea Bosch, Beraterin beim Trägerverein Frauen helfen Frauen. Gleichzeitig sei die Versorgung von Alleinstehenden oder Frauen mit mehreren Kindern mit Sozialwohnungen sehr schwierig.
Hinzu kommt: Wer in einer Notsituation ist, dem fehlt unter Umständen die Kraft, sich der aufreibenden Wohnungssuche zu stellen. „Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, haben es oft besonders schwer bei der Wohnungssuche“, sagt Oranna Keller-Mannschreck von Pro Familia in Waiblingen. „Sie haben häufig die Haltung eines gedemütigten Menschen, wirken vielleicht kleinlaut. Sie stehen unter Schock und müssen erst einmal mit der Situation klarkommen.“
Dabei ist den Beratern wichtig, den Ernst der Lage klarzumachen. 27 Frauen und vier Männer in Baden-Württemberg wurden 2018 von ihrem Partner getötet. Dennoch fällt es manchen schwer, auf ihr Recht zu pochen und mit Hilfe der Polizei und eines Platzverweises das alte Zuhause zu sichern. Wie im Fall der Frau aus dem Stuttgarter Speckgürtel, die sich davor scheut, ihren Mann aus jener Wohnung zu vertreiben, in die sie mit ihren Kindern eingezogen ist. Doch gerade diese sind die Leidtragenden, warnt Keller-Mannschreck: „Für Kinder ist so eine Situation absolut zerstörerisch.“
Quelle