Junge Stuttgarter haben in einem leerstehenden Gebäude ihr Lager aufgeschlagen. Sie wollen auf den Wohnraummangel aufmerksam machen.
Leerstand beleben – so lautete bereits das Motto bei der Besetzung eines Hauses in der Wilhelm-Raabe-Straße im vergangenen Jahr. Vor einigen Tagen haben junge Stuttgarter erneut ein Haus besetzt. Wer sich in und um das vierstöckige Backsteinhaus in der Forststraße 140 umsieht, muss konstatieren, dass die Gruppe ihr Motto umgesetzt hat. An der Hauswand informieren Info-Zettel Passanten über das Programm der kommenden Tage. Im ersten Stock ist ein Buffet aufgebaut, auf Bierbänken sitzen Frauen und Männer, essen Nudeln mit Tomatensoße. Sogar ein Spielzimmer für Kinder haben sie eingerichtet, mit Luftballons, Girlanden und drei Laufrädern. Ganz oben befindet sich ein Matratzenlager.
Um die zehn Personen leben seither dauerhaft hier, eine feste Gruppe von 20 bis 30 Sympathisanten ist täglich vor Ort, dazu schneien häufig neugierige und – den Angaben der Besetzer zufolge – durchaus wohlgesinnte Nachbarn ins Haus.
Blick für soziale Not schärfen
Zum festen Kern der Sympathisanten gehört der 19-jährige Felix, der gerade Red Bull trinkt und Nudeln auf dem Plastikteller aufgabelt. Er selbst sei noch in einer „komfortablen Situation“, wie er sagt, beginne im Herbst eine Ausbildung und habe noch keine Kinder. Den Blick für die soziale Not anderer hat er trotzdem. „Ich kenne in meinem Freundes- und Bekanntenkreis niemanden, der auf Anhieb eine bezahlbare Wohnung gefunden hat“, sagt Felix.
Besonders für Familien und Alleinerziehende gebe der Wohnungsmarkt nichts her. „Es ist deshalb enorm wichtig mit eigenen Augen zu sehen, was Leerstand überhaupt ist.“ So sieht es auch der 28-jährige Alex, der die Vorgänge mit seiner Kamera dokumentiert. Alex hat das Vertrauen in die Kommunalpolitik verloren. Er begrüßt die Besetzung, weil sie zeige, was schiefläuft. „Alle anderen Maßnahmen zeigen keine Wirkung. Hier wird vorgelebt, dass man die Sache in die eigenen Hände nehmen kann.“
Während die letzten Mieter vor einem Jahr ausgezogen seien, lägen bei anderen Wohnungen der Verdacht nahe, dass sie schon länger leer stehen. Aus einem der Briefkästen hätten Besetzer einen auf 1998 datierten Brief gefischt, sagt Paul von Pokrzywnicki, Sprecher des Aktionsbündnisses „Recht auf Wohnen“.
„Das lässt darauf schließen, dass zumindest einige Wohnungen schon deutlich länger leer stehen als nur ein paar Jahre.“ Der Energieversorger EnBW habe mittlerweile im Auftrag der Eigentümer das Gas abgedreht, zwei geliehene Elektroheizungen sorgten für Wärme. Im Haus herrscht ein Kommen und Gehen: Familien mit Kindern, Freunde und Bekannte, Medienvertreter und Politiker zeigen sich.
Drei Familien haben bereits bekundet, gerne einziehen zu wollen. Wer der oder die Eigentümer des Hauses sind, ist noch nicht geklärt. Laut Angaben der Stadt liegt seit eineinhalb Jahren eine Baugenehmigung vor. Der Südwestrundfunk sprach in einem Beitrag von einer „Wohnbaugesellschaft“, nannte aber keine Quelle für seine Information.
Eigentümer wollen renovieren
In einem Brief an die Stuttgarter Nachrichten gab die Eigentümerin an, das Haus erst im vergangenen Jahr erworben zu haben und bezahlbaren Wohnraum schaffen zu wollen. Bereits für April seien erste Renovierungsmaßnahmen vorgesehen. Sogar mehr Wohnraum solle entstehen, statt 400 sollen es künftig 700 Quadratmeter sein. Weiter wirft die Eigentümerin den Besetzern in dem Brief vor, durch ihre Aktion die Schaffung bezahlbaren Wohnraums zu verhindern. Rechtsanwalt Oliver Boese von der Stuttgarter Kanzlei BSB Quack Gutterer, der die Eigentümerin vertritt, bestätigt die im Brief angekündigten Absichten. Weiter wolle sich seine Mandantin derzeit nicht äußern.
Für viele Besetzer klingt die Stellungnahme wenig glaubhaft. An eine freiwillige Räumung denkt in der Forststraße vorerst derzeit niemand.
https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Gekommen-um-zu-bleiben-408365.html